Das sechste Winterkind

… Sie war neunzehn Jahre alt und es war ein Wunder, dass sie nicht schon viel früher in die Situation geraten war, in der sie sich jetzt befand …

 Seit ihrer Kindheit nimmt Marlin Dinge wahr, die anderen verborgen bleiben. Was sie sieht und hört, ängstigt sie so sehr, dass sie eines Nachts die Nerven verliert ... Von diesem Moment an ist ihr Leben nicht mehr wie es einmal war.

„Die Freude an der Nordischen Mythologie ließ die Idee zu der Geschichte entstehen.“



Die Taschenbuchausgabe umfasst 490 Seiten
Das ebook hat eine Dateigröße von 2007 KB
 


Leseprobe: Prolog und Kapitel 1

Prolog

Von Woche zu Woche war es schlimmer geworden. Mittlerweile schlief sie in der Nacht weniger als drei Stunden. Jeden Abend, wenn sie ins Bett ging, legte sich die Angst zu ihr.

 Es war zwanzig Minuten nach eins. Wie in den vorangegangenen Nächten lag sie auch heute mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett. Im blassen Licht des Vollmondes, das durch das Fenster fiel, wanderte ihr Blick nervös in jeden Winkel des Zimmers.
Ihr Atem ging flach. Vor lauter Anspannung zitterte sie leicht. Sie war wie ein gehetztes Tier – jederzeit zur Flucht bereit.
Sie glaubte, in der Ecke neben ihrem Kleiderschrank etwas zu erkennen. Ohne zu blinzeln, starrte sie auf den Punkt, bis ihre Augen anfingen zu tränen, sodass sie diese für einen winzigen Moment schließen musste. Als sie ihre Augen wieder aufschlug, um erneut die Wandecke zu prüfen, war dort nichts. Nichts, außer ihrem Kleiderschrank und der nackten Wand, die jetzt ganz harmlos aussah.
Sie horchte in die Stille des Zimmers, ob die Stimmen zu hören waren. Doch alles war ruhig.
Heute nicht!, dachte sie und stand kurz entschlossen auf. Heute werde ich mich nicht durch die Nacht quälen und darauf warten, dass der Schlaf mich findet. Ich werde zur Nachttankstelle gehen und von dort aus durch die Clubs ziehen.

Als der Sensor sie erfasste, öffnete sich die Automatiktür. Sie betrat den Verkaufsraum der Tankstelle.
Einige Nachtschwärmer liefen die Regale mit den Spirituosen, Süßigkeiten und Knabbersachen ab.
„Moin, Klaus.“
Sie winkte dem alten Mann zu, der eine Prinz-Heinrich-Mütze und einen goldenen Ohrring trug, der die Form eines Ankers hatte. Er lehnte an einem der Stehtische und hielt einen dampfenden Pott Kaffee in der Hand.
Sie hatte schon oft mit Klaus zusammengestanden und seinen Geschichten gelauscht. Er war fast fünfzig Jahre zur See gefahren und wusste alles über fremde Länder und andere Sitten.
„Moin, mien Deern“, sagte Klaus und wandte sich wieder seinem Kaffee zu.
 
Der Trubel, die Menschen und die grelle Deckenbeleuchtung hatten etwas Beruhigendes. Langsam entspannte sie sich. Hier würde ihr sicherlich nichts passieren.
Sie ging hinüber zur Kühlung, um sich eine Cola zu holen. Während sie die Tür des Glasschrankes schloss, hörte sie das immer lauter werdende Gewisper.
Panisch drehte sie sich in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Dort sah sie den Nebel, der zwischen den Regalen hervorquoll und sich keine drei Meter von ihr entfernt zu einer Wolke formierte. Langsam schob sich eine Hand aus dem Dunst.
Ihr Schrei hörte sich an wie der eines gequälten Tieres. Sie war wie gelähmt. Zitternd stand sie da und sah zu, wie sich die Hand weiter und weiter aus dem Nebel schob.
Dann, ganz plötzlich, traten eine Frau und vier Männer aus der Wolke.
„Fürchte dich nicht“, sagte einer der Männer.
Sie ließ die Colaflasche auf den Boden fallen, wo diese mit einem dumpfen Knall zersplitterte. Das Bersten des Glases befreite sie aus ihrer Starre. Sie drückte sich die Hände auf die Ohren.
„Geht weg!“, kreischte sie völlig hysterisch. „Lasst mich in Ruhe! Haut ab!“
Mittlerweile war auch der letzte Kunde im Verkaufsraum auf sie aufmerksam geworden. Alle starrten sie an. Klaus kam zu ihr herüber.
„Was ist denn los, Mädchen?“
„Da.“ Sie zeigte zu der Frau und deren Begleitern. Wie eine Ertrinkende krallte sie sich an Klaus’ Arm fest. „Siehst du sie nicht?“
„Da ist nichts. Wir trinken jetzt einen schönen heißen Kaffee, und dann geht es dir gleich besser“, redete Klaus beruhigend auf sie ein. Er legte vorsichtig einen Arm um ihre Schulter, um sie hinüber zum Stehtisch zu führen.
„NEIN!“, schrie sie vollkommen außer sich und schüttelte Klaus’ Arm von ihrer Schulter. „Sie stehen direkt vor uns. Du musst nur hinsehen … Sieh hin!“
Dann verlor sie vollends die Fassung. Sie riss den Getränkeschrank auf, nahm eine Flasche nach der anderen heraus und schmiss diese in die Richtung der Fremden.
Jetzt kam Bewegung in die umstehenden Leute. Mehrere Männer kamen auf sie zu und versuchten ihre Arme festzuhalten.
Mit einer Körpergröße von unter einssechzig und ihrer zierlichen Gestalt wirkte sie auf andere sehr zerbrechlich. Doch sie wusste, dass sie mehr aushalten konnte und stärker war, als die Leute vermuteten. Und dies stellte sie jetzt unter Beweis.
Sie wehrte sich erbittert. Sie trat nach den Männern, kratzte diese, und einen biss sie sogar in den Arm.
 
Es gab einen winzigen Moment, in dem sie glaubte, sich befreien zu können, um zu fliehen. Aber dann spürte sie einen brennenden, stechenden Schmerz in ihrem Oberarm, und in der gleichen Sekunde umfing sie tiefe Dunkelheit.

Kapitel 1

Sehr langsam kam sie zu sich. Ihr ganzer Körper schmerzte. Ihre Lider waren schwer wie Blei, sodass sie es nur mühsam schaffte, die Augen zu öffnen.
 
Völlig orientierungslos und noch etwas benommen lag sie da. Sie blinzelte, um ein klares Bild ihrer Umgebung zu bekommen. Als sie ihren Kopf ein wenig zur Seite drehte, fiel ihr eine Locke ins Gesicht und kitzelte sie an der Nase.
Die Locken und ihre großen, braunen Augen mit den dichten Wimpern hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Das Blond ihres Haares, durchzogen von einem leichten Kupferton, hatte sie ihrem Vater zu verdanken.
Sie wollte sich die Locke aus dem Gesicht streichen, doch sie konnte ihren Arm nur wenige Zentimeter anheben. Sie schaute an sich hinunter.
Ich kann es nicht fassen, dachte sie. Die haben mich tatsächlich fixiert.
Ihre Handgelenke und Knöchel steckten in breiten, gepolsterten Ledermanschetten, die zu beiden Seiten des Bettes befestigt waren.
Über ihr Becken lief ein weiterer Ledergurt von einer Seite des Bettes auf die andere und fixierte ihren Körper auf der Matratze.
Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Ein winziger Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Nachttisch, das war’s. Die karge Einrichtung und das Fenster, an dem der Griff fehlte, sodass dieses nicht geöffnet werden konnte, bestätigten ihren Verdacht, dass sie sich in der Psychiatrie befand.
Sie erinnerte sich, wie sie in der vergangenen Nacht verzweifelt gegen die Männer im Verkaufsraum der Tankstelle gekämpft hatte.
Ihr fiel auch wieder ein, dass sie gesehen hatte, wie ein Krankenwagen neben einer der Tanksäulen hielt und zwei Sanitäter ausgestiegen waren. Diese mussten ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt haben, damit sie aufhörte, sich selbst und andere zu gefährden.
 
Schon immer hatte sie damit gerechnet, dass sie irgendwann aufgrund ihres Problems  in der Psychiatrie landen würde. Jahrelang hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Daher war sie jetzt auch ganz ruhig.
 
Sie war neunzehn Jahre alt, und es war ein Wunder, dass sie nicht schon viel früher in die Situation geraten war, in der sie sich jetzt befand.
 
 
Bis zu ihrem siebten Lebensjahr war Marlin ein fröhliches und glückliches Kind gewesen. Doch dann starben ihre Eltern während eines Skiurlaubes durch einen Lawinenabgang. Dieser Unfall veränderte Marlins gesamtes Leben.
Nach dem Tod ihrer Eltern kam sie zu ihrer Großmutter mütterlicherseits. Sie war Marlins einzige noch lebende Verwandte.
Marlin liebte ihre Omama. So nannte sie sie, weil ihre Oma nach dem Tod ihrer Eltern auch irgendwie ihre Mama war. Trotz der Fürsorge und Liebe konnte ihre Großmutter ihr die Eltern nicht ersetzen. Es verging kein Tag, an dem Marlin ihre Mutter und ihren Vater nicht vermisste.
Vier Jahre nach dem Tod ihrer Eltern verstarb auch ihre Großmutter ganz plötzlich und vollkommen unerwartet. Marlin kam sich vor wie ein winziger Punkt in der großen Welt und fühlte sich fürchterlich einsam.
Da keine Verwandten (nicht einmal weit entfernte) ermittelt werden konnten, kam sie in staatliche Obhut.
„Hier hast du eine Kiste“, sagte die Sozialarbeiterin und hielt Marlin eine blaue Plastikbox entgegen. „Da kannst du deine Lieblingssachen hineinräumen.“
„Alles, was ich möchte?“, wollte Marlin wissen.
„Ja, alles, was du möchtest. Hauptsache, der Deckel geht noch zu.“
Wo sollte sie anfangen? Überfordert mit der Situation stand sie in ihrem Kinderzimmer und blickte sich um.
Ihre Großmutter hatte immer gesagt: „Sollte mir irgendwann etwas passieren und ich kann nicht mehr auf dich aufpassen, dann denke immer daran, Marlin: Kein Problem kann so groß sein, dass du es nicht lösen kannst. Verliere nie den Mut. Sei tapfer. Kümmere dich um andere, wenn sie dich um Hilfe bitten, dann wird auch dir in der Not geholfen werden.“
Daran erinnerte Marlin sich, während sie in ihrem Zimmer stand und nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Sie atmete tief durch.
Sei tapfer, verliere nicht den Mut …, dachte sie und fing an, die blaue Kiste zu füllen. Sie legte zwei ihrer Lieblingsbücher und eine Taschenlampe (man konnte ja nie wissen) hinein.
Dazu packte sie den silbernen Bilderrahmen, den ihre Oma ihr vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Foto, das darin steckte, zeigte ihre Eltern, ihre Großmutter und sie selbst im Alter von drei Jahren. Jeden Abend, bevor Marlin das Licht ausschaltete, um zu schlafen, betrachtete sie das Foto für einen Moment.
Wie glücklich wir alle aussahen …, dachte sie jedes Mal.
Auf den Bilderrahmen legte sie ihren Lieblingskopfkissenbezug und den abgeschmusten Stoffhasen, der sie seit ihrer Geburt begleitete.
Dann prüfte sie, ob der Deckel der Kiste noch zuging. Als das der Fall war, packte sie kurz entschlossen noch das von ihrem Vater selbst gebaute Windspiel oben drauf. Sie wollte es in ihrem neuen Zimmer ans Fenster hängen. Wenn eine Brise den Klöppel zum Schwingen brachte und dieser dadurch leicht gegen die kleinen und großen Metallröhrchen schlug, erklangen die schönsten Töne. Marlin liebte es, die Augen zu schließen und den immer neuen Melodien zu lauschen, die der Wind für sie spielte.
 
Die Sozialarbeiterin klemmte sich die blaue Plastikkiste unter den linken Arm. In der rechten Hand hielt sie einen Koffer, der randvoll mit Marlins Kleidung gefüllt war.
Marlin und ihre Sachen wurden ohne viel Worte im Auto verstaut. Die Sozialarbeiterin fuhr sie zu einer Pflegefamilie, der noch vier weitere folgen sollten.
Bei den ersten beiden Familien blieb sie nur wenige Wochen. Die dritte Familie, die Meiers, behielten sie sogar für neunzehn Monate bei sich. Doch dann kapitulierten auch sie.
Marlin zog zum dritten Mal die Plastikkiste unter ihrem Bett hervor und fing an, ihre Sachen zu verstauen. Das Windspiel und die Taschenlampe hatte sie nach den letzten Umzügen nicht einmal mehr ausgepackt.
Wie die vorangegangenen Pflegeeltern hatten auch die Meiers gesagt: „Es tut uns leid. Wir können Marlin nicht länger bei uns behalten. Sie bringt die ganze Gruppe durcheinander. Der gesamte Tagesablauf wird durch sie gestört."
 
Das, womit die Pflegefamilien nicht zurechtkamen, hatte mit dem Tod ihrer Eltern begonnen. Immer öfter sah sie den Nebel. Auf dem Spielplatz, in ihrem Kinderzimmer oder beim Einkaufen mit ihrer Oma.
Am Anfang hatte sie sich nicht vor dem Dunst gefürchtet. Im Gegenteil. Neugierig war sie auf ihn zugegangen und hatte ihre Finger durch ihn hindurchgleiten lassen. Die Angst vor dieser Erscheinung kam erst, als sie Gestalten in dem Nebel wahrnahm, deren Konturen mit jedem Jahr, das verging, klarer hervortraten.
Es waren fünf Kinder. Ein Mädchen und vier Jungs. Sie waren in Marlins Alter. Und so, wie sie heranwuchs und sich entwickelte, wurden auch das Mädchen und die Jungs älter und erwachsener.
Ihre Oma empfand es nicht als Problem, dass ihre Enkelin Menschen in einer Nebelwolke sah, die außer von Marlin von niemandem sonst wahrgenommen wurden. Wenn Marlin verstört und verängstigt auf einen Punkt starrte, lachte ihre Oma nur.
„Na, guckst du den Nebelkindern wieder beim Spielen zu?“
Sie nahm ihre zitternde Enkelin fest in die Arme und strich ihr durchs Haar.
„Hab keine Angst. Ich glaube, dass das nette Kinder sind. Und wer weiß? Irgendwann werden sie vielleicht deine besten Freunde sein.“
 
Was ihre Großmutter mit einem Lächeln und ein paar beruhigenden Worten weggewischt hatte, schien für andere Menschen ein wahres Problem zu sein.
In den ersten drei Pflegefamilien hatte Marlin noch von den Nebelwolken erzählt. Sobald eine erschien, zeigte sie in die Richtung, in der diese im Raum schwebte.
„Seht ihr?“, fragte sie die anderen Kinder. „Da ist sie wieder … Ein Mädchen und vier Jungs …“ Dann beschrieb Marlin, was die Nebelkinder gerade taten.
Nach kürzester Zeit waren die anderen Mädchen und Jungen der Familien total verängstigt. Abends wollten sie nicht mehr ins Bett gehen, und wenn sie endlich schliefen, erwachten sie nachts weinend, von Albträumen geplagt.
Am Tag schauten sie alle paar Minuten hinter sich, um sich zu vergewissern, dass keine Wolke hinter ihnen schwebte. Sie hatten Angst, dass die Nebelkinder sie in diese hineinzerren könnten und sie auf ewig verloren wären.
„Da ist nichts“, sagten die Pflegeeltern. „Marlin hat nur eine blühende Fantasie. Es gibt keine Nebelwolken, in denen Menschen leben.“
Was die Pflegeeltern verheimlichten, war, dass sie glaubten, dass Marlins Wahnvorstellungen von einer schweren psychischen Störung ausgelöst wurden.
Verschiedene Psychiater wurden zurate gezogen. Marlin besuchte regelmäßig eine Gesprächs- und eine Reittherapie. Zusätzlich wurde sie medikamentös eingestellt.
Als Marlin dann trotz aller Therapien und Medikamente mit vierzehn Jahren zum vierten Mal die Plastikkiste packen musste, begriff sie, dass es besser war, niemandem (niemals wieder) von dem zu erzählen, was sie sah. Auf Nachfrage von Therapeuten und den neuen Pflegeeltern log sie.
„Nein, ich sehe keinen Nebel mehr.“
Die behandelnden Therapeuten fanden Marlins Entwicklung äußerst positiv. Ihre positive Entwicklung führte dazu, dass sie nach zwei Jahren keine Medikamente mehr nehmen musste und die Therapien ein paar Monate später eingestellt wurden.
Da sich Marlin als normale Jugendliche darstellte, durfte sie bis zu ihrer Volljährigkeit in der vierten Pflegefamilie bleiben.
Nach ihrem achtzehnten Geburtstag wechselte sie ins Betreute Wohnen. In der WG gab es fünf weitere junge Erwachsene. Im Betreuten Wohnen sollte sie bleiben, bis sie ihre Ausbildung zur Floristin beendet hatte und finanziell auf eigenen Füßen stehen konnte.
Manchmal wollte noch einer der Betreuer wissen, was der Nebel machte.
„Nebel?“, fragte Marlin dann.
„Ja, der Nebel, in dem die Kinder spielen …“
„Ach, DER Nebel. Nee, der ist weg. War wohl nur eine Kinderfantasie.“
 
Aber der Nebel war nicht weg, und die ehemals spielenden Kinder waren mittlerweile in Marlins Alter. Aus den einstmals schemenhaften Konturen waren Menschen aus Fleisch und Blut geworden.
Es war nur noch ein hauchdünner Schleier, der Marlin von ihnen trennte. Manchmal standen die Frau und die Männer wie angewurzelt da und schauten in ihre Richtung.
Dann glaubte sie, von ihnen beobachtet zu werden. Ein paar Mal war sie mutig gewesen und hatte die Nebelkinder angesprochen und ihnen zugewinkt. Keiner von ihnen hatte jemals auf sie reagiert, sodass Marlin sich sicher war, dass nur sie durch den Nebel hindurchblicken konnte.
Marlin hatte sich damit abgefunden, dass sie diese merkwürdigen Dinge sah. Sie gehörten einfach zu ihrem Leben. Nachdem sie das akzeptiert hatte, war das Auftauchen der Nebelkinder überhaupt nicht mehr schlimm.
 
Das änderte sich vor einem halben Jahr. Da hörte Marlin zum ersten Mal die Stimmen. Es war nur ein Flüstern. Trotzdem weckte es sie. Sie lauschte in die Dunkelheit. Zuerst dachte sie, es wäre der Wind, der die Blätter des Baumes zum Rascheln brachte, der vor dem Haus stand. Sie drehte ihren Kopf zum geöffneten Fenster, um zur großen Krone des Baumes zu sehen. Im schwachen Licht einer weit entfernten Straßenlaterne konnte sie sehen, dass sich nicht ein einziges Blättchen bewegte. Es war vollkommen windstill.
Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen. Sie konnte fühlen, wie die Angst durch ihren Körper kroch. Sie schlug auf den Schalter der Nachttischlampe. Als sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie die Nebelwolke am Fußende ihres Bettes.
Die Frau und die vier Männer saßen an einem Lagerfeuer und unterhielten sich. Das Flüstern, das Marlin hörte, kam aus der Wolke.
 
In den letzten Monaten war das Flüstern zu einer normalen Lautstärke angestiegen. Trotzdem war es Marlin nicht möglich, zu verstehen, was die Nebelkinder sagten. Es waren nur Fragmente einiger Wörter, die durch den Dunst zu ihr getragen wurden.
Ihr war klar, dass das Sehen irgendwelcher Wolken noch mit einer blühenden Fantasie zu erklären war. Aber Stimmen …
Sie war krank. Daran bestand für sie kein Zweifel mehr. Jedes Mal, wenn sie die Nebelkinder hörte, hatte sie das Gefühl, mehr und mehr den Verstand zu verlieren.
  
Als dann in der vergangenen Nacht die Frau und ihre Begleiter aus dem Dunst traten und der Mann mit den fantastischen nachtblauen Augen sagte: Fürchte dich nicht, wusste sie, dass sie den Bezug zur realen Welt verloren hatte.
 
Ich liege hier, fixiert an mein Bett und denke über die nachtblauen Augen eines Typen nach, der aus einer Nebelwolke heraustrat.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.
 
Über die Frau und die vier Männer nachzudenken, erleichterte es ihr, ruhig zu bleiben. Denn das hatte sie sich vorgenommen: Ruhig bleiben.
Marlin wusste, je normaler sie auf das Pflegepersonal und die behandelnden Ärzte wirken würde, desto schneller käme sie hier raus. Wenn sie draußen war, würde sie selbst einen Weg finden, mit ihren Wahnvorstellungen zurechtzukommen.
Also fahr dich runter, Marlin. Sei ruhig und entspannt, bevor du den Klingelknopf drückst …
Sie fing an, tief ein- und auszuatmen. Dabei hielt sie in ihrer rechten Hand den Alarmknopf. Den hatte sie entdeckt, als sie sich die Ledermanschetten an ihren Armen genauer angesehen hatte. Die Klingel war am Bettrahmen befestigt und lag auf der Decke, direkt neben ihrer Hand.
Während sie versuchte, ihren Herzschlag in einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus zu bringen, wanderten ihre Gedanken zurück in den Verkaufsraum der Tankstelle.
 
 
Es war bedrohlich und zutiefst verwirrend, dass fünf Personen aus einer Nebelwolke heraustraten. Allerdings musste Marlin sich eingestehen, dass dies das Einzige war, das zum Fürchten gewesen war.
Die Frau hatte ihr ein warmes, wunderschönes Lächeln geschenkt. Ihre grünen Augen hatten gestrahlt, und Marlin hatte sie sofort gemocht. Bei den Männern war es ihr ähnlich ergangen. Sie hatten alle einen entspannten und freundlichen Eindruck auf sie gemacht. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass die fünf ihr etwas Böses wollten. Im Gegenteil.
Alle hatten sie angesehen, als wären sie überglücklich endlich den Nebel verlassen zu haben und Marlin in Fleisch und Blut vor sich zu sehen. Die Stimme des Typen mit den nachtblauen Augen hatte einen sanften Klang, als er sagte: Fürchte dich nicht.
Marlin musste sich eingestehen, dass sie sich in der Gegenwart der Fremden wohlgefühlt hatte. So viele Jahre hatten sie Marlin begleitet, waren mit ihr erwachsen geworden … Und als sie endlich vor ihr standen, hatte ihr Herz einen kleinen Hüpfer gemacht. Nicht aus Furcht, sondern vielmehr vor Glück. Doch dieses Gefühl hatte sie sofort verdrängt.
Was niemand außer ihr sehen und hören konnte, das durfte nicht sein – nicht einmal, wenn es sie glücklich machte. Darum hatte sie angefangen zu schreien und die Frau und die Männer mit Flaschen beworfen. Sie musste diese Halluzination zerstören. Diese Menschen mussten raus aus ihrem Kopf. Sie wollte keine imaginären Freunde. Das war nicht normal. Und genau das wollte sie sein – normal. Sie wollte durchs Leben gehen wie jeder andere Mensch. Sie wollte ihr Leben nicht mit einer Nebelwolke und den darin lebenden Bewohnern teilen …
 
Marlins Plan stand fest. Sie musste schnellstmöglich aus der Psychiatrie raus, ihre Lehre beenden und auf eigenen Füßen stehen. Sie wollte endlich nicht mehr unter der Beobachtung irgendwelcher Betreuer, Psychiater und Psychologen stehen.
Mit den Halluzinationen würde sie schon fertig werden. Sie würde den Nebel einfach ignorieren, wenn er auftauchte, und nicht hinhören, wenn einer der Fremden mit ihr sprach. Alles würde gut werden. Da war Marlin sich sicher.
 
Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie den Alarmknopf drückte.