Das sechste Winterkind
… Sie war neunzehn Jahre alt und es war ein Wunder, dass sie nicht schon viel früher in die Situation geraten war, in der sie sich jetzt befand …
Seit ihrer Kindheit nimmt Marlin Dinge wahr, die anderen verborgen bleiben. Was sie sieht und hört, ängstigt sie so sehr, dass sie eines Nachts die Nerven verliert ... Von diesem Moment an ist ihr Leben nicht mehr wie es einmal war.
„Die Freude an der Nordischen Mythologie ließ die Idee zu der Geschichte entstehen.“
Die Taschenbuchausgabe umfasst 490 Seiten
Das ebook hat eine Dateigröße von
2007 KB
Leseprobe: Prolog und Kapitel 1
Prolog
Von Woche zu Woche war es schlimmer geworden.
Mittlerweile schlief sie in der Nacht weniger als drei Stunden. Jeden Abend,
wenn sie ins Bett ging, legte sich die Angst zu ihr.
Es war zwanzig Minuten nach eins. Wie in den
vorangegangenen Nächten lag sie auch heute mit weit aufgerissenen Augen in
ihrem Bett. Im blassen Licht des Vollmondes, das durch das Fenster fiel,
wanderte ihr Blick nervös in jeden Winkel des Zimmers.
Ihr Atem ging flach. Vor lauter Anspannung zitterte sie leicht. Sie war wie
ein gehetztes Tier – jederzeit zur Flucht bereit.
Sie glaubte, in der Ecke neben ihrem Kleiderschrank etwas zu erkennen. Ohne
zu blinzeln, starrte sie auf den Punkt, bis ihre Augen anfingen zu tränen,
sodass sie diese für einen winzigen Moment schließen musste. Als sie ihre
Augen wieder aufschlug, um erneut die Wandecke zu prüfen, war dort nichts.
Nichts, außer ihrem Kleiderschrank und der nackten Wand, die jetzt ganz
harmlos aussah.
Sie horchte in die Stille des Zimmers, ob die Stimmen zu hören waren. Doch
alles war ruhig.
Heute nicht!, dachte sie und stand kurz entschlossen auf. Heute
werde ich mich nicht durch die Nacht quälen und darauf warten, dass der Schlaf
mich findet. Ich werde zur Nachttankstelle gehen und von dort aus durch die
Clubs ziehen.
Als der Sensor
sie erfasste, öffnete sich die Automatiktür. Sie betrat den Verkaufsraum der
Tankstelle.
Einige Nachtschwärmer liefen die
Regale mit den Spirituosen, Süßigkeiten und Knabbersachen ab.
„Moin, Klaus.“
Sie winkte dem alten Mann zu, der
eine Prinz-Heinrich-Mütze und einen goldenen Ohrring trug, der die Form eines
Ankers hatte. Er lehnte an einem der Stehtische und hielt einen dampfenden
Pott Kaffee in der Hand.
Sie hatte schon oft mit Klaus
zusammengestanden und seinen Geschichten gelauscht. Er war fast fünfzig Jahre
zur See gefahren und wusste alles über fremde Länder und andere Sitten.
„Moin, mien Deern“, sagte Klaus
und wandte sich wieder seinem Kaffee zu.
Der Trubel, die Menschen und die
grelle Deckenbeleuchtung hatten etwas Beruhigendes. Langsam entspannte sie
sich. Hier würde ihr sicherlich nichts passieren.
Sie ging hinüber zur Kühlung, um
sich eine Cola zu holen. Während sie die Tür des Glasschrankes schloss, hörte
sie das immer lauter werdende Gewisper.
Panisch drehte sie sich in die
Richtung, aus der die Stimmen kamen. Dort sah sie den Nebel, der zwischen den
Regalen hervorquoll und sich keine drei Meter von ihr entfernt zu einer Wolke
formierte. Langsam schob sich eine Hand aus dem Dunst.
Ihr Schrei hörte sich an wie der
eines gequälten Tieres. Sie war wie gelähmt. Zitternd stand sie da und sah zu,
wie sich die Hand weiter und weiter aus dem Nebel schob.
Dann, ganz plötzlich, traten eine
Frau und vier Männer aus der Wolke.
„Fürchte dich nicht“, sagte einer
der Männer.
Sie ließ die Colaflasche auf den
Boden fallen, wo diese mit einem dumpfen Knall zersplitterte. Das Bersten des
Glases befreite sie aus ihrer Starre. Sie drückte sich die Hände auf die
Ohren.
„Geht weg!“, kreischte sie völlig
hysterisch. „Lasst mich in Ruhe! Haut ab!“
Mittlerweile war auch der letzte
Kunde im Verkaufsraum auf sie aufmerksam geworden. Alle starrten sie an. Klaus
kam zu ihr herüber.
„Was ist denn los, Mädchen?“
„Da.“ Sie zeigte zu der Frau und
deren Begleitern. Wie eine Ertrinkende krallte sie sich an Klaus’ Arm fest.
„Siehst du sie nicht?“
„Da ist nichts. Wir trinken jetzt
einen schönen heißen Kaffee, und dann geht es dir gleich besser“, redete Klaus
beruhigend auf sie ein. Er legte vorsichtig einen Arm um ihre Schulter, um sie
hinüber zum Stehtisch zu führen.
„NEIN!“, schrie sie vollkommen
außer sich und schüttelte Klaus’ Arm von ihrer Schulter. „Sie stehen direkt
vor uns. Du musst nur hinsehen … Sieh hin!“
Dann verlor sie vollends die
Fassung. Sie riss den Getränkeschrank auf, nahm eine Flasche nach der anderen
heraus und schmiss diese in die Richtung der Fremden.
Jetzt kam Bewegung in die
umstehenden Leute. Mehrere Männer kamen auf sie zu und versuchten ihre Arme
festzuhalten.
Mit einer Körpergröße von unter einssechzig und ihrer zierlichen Gestalt wirkte sie auf andere sehr zerbrechlich.
Doch sie wusste, dass sie mehr aushalten konnte und stärker war, als die Leute
vermuteten. Und dies stellte sie jetzt unter Beweis.
Sie wehrte sich erbittert. Sie
trat nach den Männern, kratzte diese, und einen biss sie sogar in den Arm.
Es gab einen winzigen Moment, in
dem sie glaubte, sich befreien zu können, um zu fliehen. Aber dann spürte sie
einen brennenden, stechenden Schmerz in ihrem Oberarm, und in der gleichen
Sekunde umfing sie tiefe Dunkelheit.
Kapitel 1
Sehr langsam kam sie zu sich. Ihr ganzer Körper
schmerzte. Ihre Lider waren schwer wie Blei, sodass sie es nur mühsam
schaffte, die Augen zu öffnen.
Völlig orientierungslos und noch etwas benommen lag sie
da. Sie blinzelte, um ein klares Bild ihrer Umgebung zu bekommen. Als sie
ihren Kopf ein wenig zur Seite drehte, fiel ihr eine Locke ins Gesicht und
kitzelte sie an der Nase.
Die Locken und ihre großen, braunen Augen mit den
dichten Wimpern hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Das Blond ihres Haares,
durchzogen von einem leichten Kupferton, hatte sie ihrem Vater zu verdanken.
Sie wollte sich die Locke aus dem Gesicht streichen,
doch sie konnte ihren Arm nur wenige Zentimeter anheben. Sie schaute an sich
hinunter.
Ich kann es nicht fassen, dachte sie.
Die haben mich tatsächlich fixiert.
Ihre Handgelenke und Knöchel steckten in breiten,
gepolsterten Ledermanschetten, die zu beiden Seiten des Bettes befestigt
waren.
Über ihr Becken lief ein weiterer Ledergurt von einer
Seite des Bettes auf die andere und fixierte ihren Körper auf der Matratze.
Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Ein
winziger Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Nachttisch, das war’s.
Die karge Einrichtung und das Fenster, an dem der Griff fehlte, sodass
dieses nicht geöffnet werden konnte, bestätigten ihren Verdacht, dass sie
sich in der Psychiatrie befand.
Sie erinnerte sich, wie sie in der vergangenen Nacht
verzweifelt gegen die Männer im Verkaufsraum der Tankstelle gekämpft hatte.
Ihr fiel auch wieder ein, dass sie gesehen hatte, wie
ein Krankenwagen neben einer der Tanksäulen hielt und zwei Sanitäter
ausgestiegen waren. Diese mussten ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt haben,
damit sie aufhörte, sich selbst und andere zu gefährden.
Schon immer hatte sie damit gerechnet, dass sie
irgendwann aufgrund ihres Problems in der Psychiatrie landen würde.
Jahrelang hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Daher war sie jetzt
auch ganz ruhig.
Sie war neunzehn Jahre alt, und es war ein Wunder, dass
sie nicht schon viel früher in die Situation geraten war, in der sie sich
jetzt befand.
Bis zu ihrem siebten Lebensjahr war Marlin ein
fröhliches und glückliches Kind gewesen. Doch dann starben ihre Eltern während eines
Skiurlaubes durch einen Lawinenabgang. Dieser Unfall veränderte Marlins gesamtes Leben.
Nach dem Tod ihrer Eltern kam sie zu ihrer Großmutter mütterlicherseits. Sie war Marlins
einzige noch lebende Verwandte.
Marlin liebte ihre Omama. So nannte sie sie, weil ihre
Oma nach dem Tod ihrer Eltern auch irgendwie ihre Mama war. Trotz der
Fürsorge und Liebe konnte ihre Großmutter ihr die Eltern nicht
ersetzen. Es verging kein Tag, an dem Marlin ihre Mutter und ihren Vater
nicht vermisste.
Vier Jahre nach dem Tod ihrer Eltern verstarb auch ihre
Großmutter ganz plötzlich und vollkommen unerwartet. Marlin kam sich vor
wie ein winziger Punkt in der großen Welt und fühlte sich fürchterlich
einsam.
Da keine Verwandten (nicht einmal weit entfernte)
ermittelt werden konnten, kam sie in staatliche Obhut.
„Hier hast du eine Kiste“, sagte die Sozialarbeiterin
und hielt Marlin eine blaue Plastikbox entgegen. „Da kannst du deine
Lieblingssachen hineinräumen.“
„Alles, was ich möchte?“, wollte Marlin wissen.
„Ja, alles, was du möchtest. Hauptsache, der Deckel geht
noch zu.“
Wo sollte sie anfangen? Überfordert mit der Situation
stand sie in ihrem Kinderzimmer und blickte sich um.
Ihre Großmutter hatte immer gesagt:
„Sollte mir irgendwann etwas passieren und ich kann
nicht mehr auf dich aufpassen, dann denke immer daran, Marlin: Kein Problem
kann so groß sein, dass du es nicht lösen kannst. Verliere nie den Mut. Sei
tapfer. Kümmere dich um andere, wenn sie dich um Hilfe bitten, dann wird
auch dir in der Not geholfen werden.“
Daran erinnerte Marlin sich, während sie in ihrem
Zimmer stand und nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Sie atmete tief
durch.
Sei tapfer, verliere nicht den Mut …, dachte sie
und fing an, die blaue Kiste zu füllen. Sie legte zwei ihrer Lieblingsbücher
und eine Taschenlampe (man konnte ja nie wissen) hinein.
Dazu packte sie den silbernen Bilderrahmen, den ihre
Oma ihr vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Foto, das darin
steckte, zeigte ihre Eltern, ihre Großmutter und sie selbst im Alter von
drei Jahren. Jeden Abend, bevor Marlin das Licht ausschaltete, um zu
schlafen, betrachtete sie das Foto für einen Moment.
Wie glücklich wir alle aussahen …, dachte sie
jedes Mal.
Auf den Bilderrahmen legte sie ihren
Lieblingskopfkissenbezug und den abgeschmusten Stoffhasen, der sie seit
ihrer Geburt begleitete.
Dann prüfte sie, ob der Deckel der Kiste noch zuging. Als das der Fall war, packte sie kurz entschlossen noch das von ihrem Vater
selbst gebaute Windspiel oben drauf. Sie wollte es in ihrem neuen Zimmer ans
Fenster hängen. Wenn eine Brise den Klöppel zum Schwingen brachte und dieser
dadurch leicht gegen die kleinen und großen Metallröhrchen schlug, erklangen
die schönsten Töne. Marlin liebte es, die Augen zu schließen und den immer
neuen Melodien zu lauschen, die der Wind für sie spielte.
Die Sozialarbeiterin klemmte sich die blaue
Plastikkiste unter den linken Arm. In der rechten Hand hielt sie einen
Koffer, der randvoll mit Marlins Kleidung gefüllt war.
Marlin und ihre Sachen wurden ohne viel Worte im Auto
verstaut. Die Sozialarbeiterin fuhr sie zu einer Pflegefamilie, der noch
vier weitere folgen sollten.
Bei den ersten beiden Familien blieb sie nur wenige
Wochen. Die dritte Familie, die Meiers, behielten sie sogar für neunzehn
Monate bei sich. Doch dann kapitulierten auch sie.
Marlin zog zum dritten Mal die Plastikkiste unter ihrem
Bett hervor und fing an, ihre Sachen zu verstauen. Das Windspiel und die
Taschenlampe hatte sie nach den letzten Umzügen nicht einmal mehr
ausgepackt.
Wie die vorangegangenen Pflegeeltern hatten auch die
Meiers gesagt: „Es tut uns leid. Wir können Marlin nicht länger bei uns
behalten. Sie bringt die ganze Gruppe durcheinander. Der gesamte Tagesablauf
wird durch sie gestört."
Das, womit die Pflegefamilien nicht zurechtkamen, hatte mit dem Tod ihrer Eltern
begonnen. Immer öfter sah sie den Nebel. Auf dem Spielplatz, in ihrem
Kinderzimmer oder beim Einkaufen mit ihrer Oma.
Am Anfang hatte sie sich nicht vor dem Dunst
gefürchtet. Im Gegenteil. Neugierig war sie auf ihn zugegangen und hatte
ihre Finger durch ihn hindurchgleiten lassen. Die Angst vor dieser
Erscheinung kam erst, als sie Gestalten in dem Nebel wahrnahm, deren
Konturen mit jedem Jahr, das verging, klarer hervortraten.
Es waren fünf Kinder. Ein Mädchen und vier Jungs. Sie
waren in Marlins Alter. Und so, wie sie heranwuchs und sich entwickelte,
wurden auch das Mädchen und die Jungs älter und erwachsener.
Ihre Oma empfand es nicht als Problem, dass ihre
Enkelin Menschen in einer Nebelwolke sah, die außer von Marlin von niemandem
sonst wahrgenommen wurden. Wenn Marlin verstört und verängstigt auf einen
Punkt starrte, lachte ihre Oma nur.
„Na, guckst du den Nebelkindern wieder beim Spielen
zu?“
Sie nahm ihre zitternde Enkelin fest in die Arme und
strich ihr durchs Haar.
„Hab keine Angst. Ich glaube, dass das nette Kinder
sind. Und wer weiß? Irgendwann werden sie vielleicht deine besten Freunde
sein.“
Was ihre Großmutter mit einem Lächeln und ein paar
beruhigenden Worten weggewischt hatte, schien für andere Menschen ein wahres
Problem zu sein.
In den ersten drei Pflegefamilien hatte Marlin noch von
den Nebelwolken erzählt. Sobald eine erschien, zeigte sie in die Richtung,
in der diese im Raum schwebte.
„Seht ihr?“, fragte sie die anderen Kinder. „Da ist sie
wieder … Ein Mädchen und vier Jungs …“ Dann beschrieb Marlin, was die
Nebelkinder gerade taten.
Nach kürzester Zeit waren die anderen Mädchen und
Jungen der Familien total verängstigt. Abends wollten sie nicht mehr ins
Bett gehen, und wenn sie endlich schliefen, erwachten sie nachts weinend,
von Albträumen geplagt.
Am Tag schauten sie alle paar Minuten hinter sich, um
sich zu vergewissern, dass keine Wolke hinter ihnen schwebte. Sie hatten
Angst, dass die Nebelkinder sie in diese hineinzerren könnten und sie auf
ewig verloren wären.
„Da ist nichts“, sagten die Pflegeeltern. „Marlin hat
nur eine blühende Fantasie. Es gibt keine Nebelwolken, in denen Menschen
leben.“
Was die Pflegeeltern verheimlichten, war, dass sie
glaubten, dass Marlins Wahnvorstellungen von einer schweren psychischen
Störung ausgelöst wurden.
Verschiedene Psychiater wurden zurate gezogen. Marlin
besuchte regelmäßig eine Gesprächs- und eine Reittherapie. Zusätzlich wurde
sie medikamentös eingestellt.
Als Marlin dann trotz aller Therapien und Medikamente
mit vierzehn Jahren zum vierten Mal die Plastikkiste packen musste, begriff
sie, dass es besser war, niemandem (niemals wieder) von dem zu erzählen, was
sie sah. Auf Nachfrage von Therapeuten und den neuen Pflegeeltern log sie.
„Nein, ich sehe keinen Nebel mehr.“
Die behandelnden Therapeuten fanden Marlins Entwicklung
äußerst positiv. Ihre positive Entwicklung führte dazu, dass sie nach zwei
Jahren keine Medikamente mehr nehmen musste und die Therapien ein paar
Monate später eingestellt wurden.
Da sich Marlin als normale Jugendliche darstellte,
durfte sie bis zu ihrer Volljährigkeit in der vierten Pflegefamilie bleiben.
Nach ihrem achtzehnten Geburtstag wechselte sie ins
Betreute Wohnen. In der WG gab es fünf weitere junge Erwachsene. Im Betreuten Wohnen sollte sie bleiben, bis sie ihre
Ausbildung zur Floristin beendet hatte und finanziell auf eigenen Füßen stehen konnte.
Manchmal wollte noch einer der Betreuer wissen, was der
Nebel machte.
„Nebel?“, fragte Marlin dann.
„Ja, der Nebel, in dem die Kinder spielen …“
„Ach, DER Nebel. Nee, der ist weg. War wohl nur eine
Kinderfantasie.“
Aber der Nebel war nicht weg, und die ehemals spielenden
Kinder waren mittlerweile in Marlins Alter. Aus den einstmals schemenhaften
Konturen waren Menschen aus Fleisch und Blut geworden.
Es war nur noch ein hauchdünner Schleier, der Marlin
von ihnen trennte. Manchmal standen die Frau und die Männer wie angewurzelt
da und schauten in ihre Richtung.
Dann glaubte sie, von ihnen beobachtet zu werden. Ein
paar Mal war sie mutig gewesen und hatte die Nebelkinder angesprochen und
ihnen zugewinkt. Keiner von ihnen hatte jemals auf sie reagiert, sodass
Marlin sich sicher war, dass nur sie durch den Nebel hindurchblicken konnte.
Marlin hatte sich damit abgefunden, dass sie diese
merkwürdigen Dinge sah. Sie gehörten einfach zu ihrem Leben. Nachdem sie das akzeptiert hatte, war das Auftauchen der Nebelkinder überhaupt
nicht mehr schlimm.
Das änderte sich vor einem halben Jahr. Da
hörte Marlin zum ersten Mal die Stimmen. Es war nur ein Flüstern. Trotzdem
weckte es sie. Sie lauschte in die Dunkelheit. Zuerst dachte sie, es wäre
der Wind, der die Blätter des Baumes zum Rascheln brachte, der vor dem Haus
stand. Sie drehte ihren Kopf zum geöffneten Fenster, um zur großen Krone des
Baumes zu sehen. Im schwachen Licht einer weit entfernten Straßenlaterne
konnte sie sehen, dass sich nicht ein einziges Blättchen bewegte. Es war
vollkommen windstill.
Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen. Sie konnte
fühlen, wie die Angst durch ihren Körper kroch. Sie schlug auf den Schalter
der Nachttischlampe. Als sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit
gewöhnt hatten, sah sie die Nebelwolke am Fußende ihres Bettes.
Die Frau und die vier Männer saßen an einem Lagerfeuer
und unterhielten sich. Das Flüstern, das Marlin hörte, kam aus der Wolke.
In den letzten Monaten war das Flüstern zu einer
normalen Lautstärke angestiegen. Trotzdem war es Marlin nicht möglich, zu
verstehen, was die Nebelkinder sagten. Es waren nur Fragmente einiger
Wörter, die durch den Dunst zu ihr getragen wurden.
Ihr war klar, dass das Sehen irgendwelcher Wolken
noch mit einer blühenden Fantasie zu erklären war. Aber Stimmen …
Sie war krank. Daran bestand für sie kein Zweifel mehr.
Jedes Mal, wenn sie die Nebelkinder hörte, hatte sie das Gefühl, mehr und
mehr den Verstand zu verlieren.
Als dann in der vergangenen Nacht die Frau und ihre
Begleiter aus dem Dunst traten und der Mann mit den fantastischen
nachtblauen Augen sagte: Fürchte dich nicht, wusste sie, dass sie den
Bezug zur realen Welt verloren hatte.
Ich liege hier, fixiert an mein Bett und denke über
die nachtblauen Augen eines Typen nach, der aus einer Nebelwolke heraustrat.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, konnte sich
aber ein Grinsen nicht verkneifen.
Über die Frau und die vier Männer nachzudenken,
erleichterte es ihr, ruhig zu bleiben. Denn das hatte sie sich vorgenommen:
Ruhig bleiben.
Marlin wusste, je normaler sie auf das Pflegepersonal
und die behandelnden Ärzte wirken würde, desto schneller käme sie hier raus.
Wenn sie draußen war, würde sie selbst einen Weg finden, mit ihren
Wahnvorstellungen zurechtzukommen.
Also fahr dich runter, Marlin. Sei ruhig und
entspannt, bevor du den Klingelknopf drückst …
Sie fing an, tief ein- und auszuatmen. Dabei hielt sie in ihrer rechten Hand
den Alarmknopf. Den hatte sie entdeckt, als sie
sich die Ledermanschetten an ihren Armen genauer angesehen hatte. Die
Klingel war am Bettrahmen befestigt und lag auf der Decke, direkt neben ihrer
Hand.
Während sie versuchte, ihren Herzschlag in einen
langsamen, gleichmäßigen Rhythmus zu bringen, wanderten ihre Gedanken zurück
in den Verkaufsraum der Tankstelle.
Es war bedrohlich und zutiefst verwirrend, dass fünf
Personen aus einer Nebelwolke heraustraten. Allerdings musste Marlin sich
eingestehen, dass dies das Einzige war, das zum Fürchten gewesen war.
Die Frau hatte ihr ein warmes, wunderschönes Lächeln
geschenkt. Ihre grünen Augen hatten gestrahlt, und Marlin hatte sie sofort
gemocht. Bei den Männern war es ihr ähnlich ergangen. Sie hatten alle einen
entspannten und freundlichen Eindruck auf sie gemacht. Nichts hatte darauf
hingewiesen, dass die fünf ihr etwas Böses wollten. Im Gegenteil.
Alle hatten sie angesehen, als wären sie überglücklich
endlich den Nebel verlassen zu haben und Marlin in Fleisch und Blut vor sich
zu sehen. Die Stimme des Typen mit den nachtblauen Augen hatte einen sanften
Klang, als er
sagte: Fürchte dich nicht.
Marlin musste sich eingestehen, dass sie sich in der
Gegenwart der Fremden wohlgefühlt hatte. So viele Jahre hatten sie Marlin
begleitet, waren mit ihr erwachsen geworden … Und als sie endlich vor ihr
standen, hatte ihr Herz einen kleinen Hüpfer gemacht. Nicht aus Furcht,
sondern vielmehr vor Glück. Doch dieses Gefühl hatte sie sofort verdrängt.
Was niemand außer ihr sehen und hören konnte, das
durfte nicht sein – nicht einmal, wenn es sie glücklich machte. Darum hatte
sie angefangen zu schreien und die Frau und die Männer mit Flaschen
beworfen. Sie musste diese Halluzination zerstören. Diese Menschen mussten
raus aus ihrem Kopf. Sie wollte keine imaginären Freunde. Das war nicht
normal. Und genau das wollte sie sein – normal. Sie wollte durchs Leben
gehen wie jeder andere Mensch. Sie wollte ihr Leben nicht mit einer
Nebelwolke und den darin lebenden Bewohnern teilen …
Marlins Plan stand fest. Sie musste schnellstmöglich
aus der Psychiatrie raus, ihre Lehre beenden und auf eigenen Füßen stehen.
Sie wollte endlich nicht mehr unter der Beobachtung irgendwelcher Betreuer,
Psychiater und Psychologen stehen.
Mit den Halluzinationen würde sie schon fertig werden.
Sie würde den Nebel einfach ignorieren, wenn er auftauchte, und nicht
hinhören, wenn einer der Fremden mit ihr sprach. Alles würde gut werden. Da
war Marlin sich sicher.
Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie den
Alarmknopf drückte.